Die schwelende Wunde der Natrium Kinder
Dies ist die Geschichte eines jungen Mädchens, das lange unerkannt so unglaublich traurig war. Eine Fallbeschreibung aus der prozessorientierten Homöopathie: Natrium muriaticum.
Eine Mutter bat mich um einen Termin für ihre 14-jährige Tochter, weil diese in der Schule nachlässig geworden war, und häufig unter starken Kopfschmerzen litt.
Im Vorgespräch erzählte sie mir, dass – nennen wir sie Marina – eigentlich immer „problemlos“ war, gesund und glücklich, nur in letzter Zeit häuften sich die Kopfschmerzattacken, die sich oft über Tage hinzogen. Marina hätte wohl lange nichts gesagt, aber rückblickend war der Mutter klar geworden, dass ihr Mädchen sich oft einfach zurückgezogen, und nicht darüber geklagt hatte.
Erst als sie eines Morgens mit einer äußerst bedenklichen gelb-grauen Gesichtsfarbe darum bat, daheim bleiben zu dürfen, wurde den Eltern klar, dass ihre Tocher ernsthafte Beschwerden hatte.
In Folge gab es eine Menge Arzttermine, niemand konnte eine körperliche Ursache feststellen, und die Eltern waren erstmal beruhigt.
Sie schoben es auf die pubertäre Hormonumstellung, und einen unfreundlichen Religionslehrer, auch litt Marina wohl unter einer ersten Enttäuschung in Liebesdingen, ein Junge aus der Parallelklasse, den sie still und heimlich verehrte, wollte nichts von ihr wissen, und übersah sie einfach.
Inzwischen hatte sich die Familie daran gewöhnt, dass Marina so etwa einmal die Woche recht abgeschlagen zur Schule ging, aber da sie nur selten ernsthaft klagte, und für die Notfälle ein Päckchen Paracetamol in der Schultasche war, vergingen die Wochen. Was aber nach dem Zwischenzeugnis auffiel, sie war in fast allen Fächern abgerutscht, und die Klassenlehrerin hatte drum gebeten ein Auge auf die vollständige Bearbeitung der Hausaufgaben zu haben, das sonst so zuverlässige und ordentliche Mädchen wäre so nachlässig geworden.
Natrium leidet unter Nicht-Beachtung
Ich kenne die Familie bereits durch die Behandlung des kleinen Bruders, ein hochaktives und blitzgescheites Kerlchen, der seine Eltern durch oft aggressive Streiche und seine „Unerziehbarkeit“ an den Rand ihrer Kräfte brachte. Dieser Bub saugte magnetisch alle Aufmerksamkeit der Eltern und Erzieher auf sich, und wenn mal Ruhe im Haus war, dann sanken alle Beteiligten erschöpft aufs Sofa und mussten sich erstmal erholen.
So war es immer wunderbar gewesen, dass Marina im Gegenzug so vernünftig und ruhig blieb, die Eltern waren zutiefst dankbar, und Marina konnte vordergründig stolz auf ihre Problemlosigkeit sein.
Hintergründig war es wohl aber eher so, dass sie einfach kaum Aufmerksamkeit bekam, auch keine einforderte, denn sie wollte ja nicht AUCH noch Ärger machen. Ihr stiller Protest war nur ein ständig leidender Gesichtsausdruck, der die Eltern zwar irritierte, aber da sie nicht laut jammerte, wurde es auch nicht groß beachtet.
Ich wollte Marina alleine sprechen, und war schockiert – da kommt ein dünnes, blasses Mädchen, komplett schwarz gekleidet, hübsch aber farblos auf allen Ebenen, lächelt mich höflich an, und antwortet ruhig und durchdacht.
Auf meine Frage, was sie sich denn so für die nächste Zeit wünscht kam ein abgeklärtes: „Ich möchte einfach nur endlich meine Ruhe haben“.
Mir stellten sich alle Haare auf. Wenn ich so etwas in diesem desillusionierte Tonfall und in solcher Hoffnungslosigkeit höre, dann schrillen mir alle Alarmglocken in Richtung drohender Suizidgefahr.
Da sie auch unter wiederkehrendem Lippenherpes litt, und noch ein paar andere Leitsymptome von Natrium mur. schilderte, war das Mittel schnell gefunden.
Die erste große Liebe ist immer der Vater
Von Natrium weiß ich, dass die Anerkennung des Vaters eine zentrale Rolle spielt, und ich bemühte mich, das Mädchen aus ihrer freundlich distanzierten Fassade zu locken, in dem ich gezielte Fragen zu ihrem Vater stellte. Mir war klar, dass Natrium gar nicht gerne über ihre Schmerzen spricht, dass sie keinen Trost verträgt, sondern lieber still vor sich hinleidet – so muss sie sich nämlich nicht mit dem erschütternden Gedanken tragen, dass sie aus ihrer Sicht gerade vom Vater nicht geliebt und beachtet wird.
Dies ist wohlgemerkt eine meist subjektive Empfindung, Natrium bekommt einfach nicht die Menge an liebevoller echter Aufmerksamkeit, die es bräuchte. Für einen anderen Menschen wäre das Erhaltene genug.
Ich fragte sie nach ihren Erfolgen in Schule und Sportverein, und sie wurde immer einsilbiger und trauriger. Wegen der Kopfschmerzen könne sie in letzter Zeit einfach nicht mehr so wie sie gerne wollte, bestimmt sei der Papa deswegen so traurig geworden – sie würde es wohl nie mehr schaffen ihn glücklich zu machen. Er hätte sich doch immer so über ihre Erfolge im Sport gefreut, und da sie nicht mehr so gut sei wir früher, zeige er nun kaum noch Interesse an ihren Aktivitäten.
Und das alles, wo er doch eh so gestresst wegen seiner Arbeit und dem kleinen Bruder sei, ständig mit der Mama streitet, und überhaupt lassen sich die Eltern bestimmt bald scheiden, und dann geht er weg.
Spätestens bei diesem letzten Satz wurde sie von ihrer Hoffnungslosigkeit und ihrer erdrückenden Verantwortung überrollt, und sie zeigte ihre Trauer und Hilflosigkeit.
Wenn Sie hier aufspringen und das verzweifelte Natrium-Kind in eine mitfühlende Umarmung zwängen, dann verlieren Sie es sofort. Es wird sich tapfer fassen, und sich für den Gefühlsausbruch entschuldigen. Gott sei Dank hatte ich mir das gemerkt…. Nein, ich bat sie vorsichtig darum mehr zu erzählen, bemühte mich um einen NICHT-Mitleidenden Gesichtsausdruck, was mir sehr sehr schwer fiel.
Und so kam Stück für Stück ans Licht, was sie an Hoffnungen und Liebesverlangen begraben hatte, wie einsam sie sich fühlte, und wie sinnlos ihr Leben für sie geworden war.
Danach sagte sie: „Jetzt waren Sie mal mein Kummerkasten – sonst bin immer ich das“
Wenn man etwas so gut kennt, wie hier das Leid und den Schmerz, dann wird man Profi, und das nützen andere gern.
Um sie aus ihrer Traurigkeit abzuholen, wollte ich ihr ganz erwachsen erklären, wie und warum das Heilmittel Natrium – das KOCHSALZ – so gut zu ihrer Geschichte passt. Aber sie kicherte nur, und sagte mit verschwörerischer Mine: „Manchmal klaue ich mir Brühwürfel, und die knabbere ich dann statt Chips“
Ein klassischer Fall von „sich holen was man braucht“. Menschen die Natrium brauchen essen liebend gerne salzig!
Viel dringender als Natrium in einer hohen Potenz war allerdings das aufklärende Gespräch mit den Eltern, dass ich nach genauer Absprache mit Marina anschliessend führte.
Ich hatte sie direkt gefragt, ob sie manchmal an Selbstmord denken würde, und sie bestätigte, dass ihr dies manchmal als die beste Lösung vorkäme. Wir konnten offen darüber sprechen, auch gab sie mir den Auftrag, den Eltern zu erklären was eigentlich los war, und in welcher Gefahr sich Marina befand.
Es war ein sehr emotionales und offenes Gespräch, und die wundervollen Eltern erkannten sofort das Thema und konnten liebevoll reagieren. Auch dem Bruder tat es sehr gut, dass der Fokus nicht mehr ausschliesslich auf ihm lastete.
Ich habe Marina nur noch einmal gesehen, als die Kopfschmerzen nach einem knappen Jahr wiederkamen. Bis dahin war sie weitestgehend beschwerdefrei gewesen, traf sich wieder mit ihren Freundinnen und rebellierte ganz normal, wie Mädchen das in der Pubertät halt so tun.
Aber schon vom Äusseren her war klar, dass sie sich gut gefangen hatte, sie war eine auffällig hübsche junge Dame geworden, mit ausdrucksstarken Augen, und modebewusst gestyled.
Die Kopfschmerzen waren zurückgekommen, als Marina ihren ersten großen Liebeskummer erleiden musste. Auf die erneute Natrium-Gabe wurde beides schnell besser.
Menschen die viel Natrium brauchen, werden immer Schwierigkeiten mit enttäuschter Liebe haben, sie knabbern einfach länger daran.
Auch werden sie lieber aus der Ferne lieben, weil das Enttäuschungsrisiko dann gegen Null geht – aber glücklicherweise kann dieses homöopathische Heilmittel helfen, sich aus der passiven Opferrolle zu lösen, sein Leben und Liebesbedürfnis in die Hand zu nehmen, und nicht ewig still vor sich hinzuleiden.
Der Leidensweg von Natrium
Salz ist das älteste Konservierungsmittel überhaupt, und Natrium-Kranke werden alles tun, um alten Kummer zu konservieren, sie können nicht vergessen, nicht verzeihen – ihre Weg nach vorne wird ausgebremst, weil sie ständig nach hinten schauen.
Die Geschichte aus dem Alten Testament von Lot´s Ehefrau, die zur Salzsäule erstarrte als sie zurück nach Sodom blickte ist sehr symbolisch für Natrium-muriaticum.
Eine schöne Aufarbeitung von der evangelischen Akademie Berlin habe ich hier gefunden: „Zur Rehabilitation von Frau Lot“
Beinahe jeder kennt so Natrium-kranke Mitmenschen, sie belästigen uns durch ihr vorwurfsvoll stilles Leiden, sie klagen nie – zumindest nicht laut, aber dabei sehr eindrücklich.
Im Kontakt mir ihnen werden wir ungewollt zum Täter gemacht, und fühlen uns schuldig. Einfach deswegen, weil sie so sehr Opfer sind, und weil wir keine Lust haben, uns mit ihnen zu beschäftigen. Die Gefahr besteht nämlich, dass sie uns mir ihrem unwiederstehlichen Sog in das Leid hineinziehen, sie entfärben das Leben wie ein handelsübliches Fleckensalz.
Ein Heilungsweg für Natrium
Natrium-Persönlichkeiten müssen erfahren, dass das lebendige Leben nur weitergeht, wenn sie den Blick nach vorne lenken.
Bewusst von einem Tag zum nächsten, auch wenn es sie immer wieder zurück zu den erfahrenen Ungerechtigkeiten, zum alten tiefen Schmerz der Kindheit zieht.
Sie wissen genau, was damals alles passiert ist, und es kostet sie immens viel Kraft, NICHT daran zu denken, zu grübeln und Hintergründe zu erforschen.
Ihre anstrengende Aufgabe ist es, etwas zurückzulassen, damit wieder Platz für Neues entstehen kann.
Sind sie gesund, dann beglücken sie uns alle durch ihr feines empathisches Wesen, und ihrer Fähigkeit genau hinzuschauen.
Sie sind wie das Salz in der Suppe, unverzichtbar, aber in Mengen ungeniessbar.
Vielen Dank, dass du bis hierher gelesen hast!
Ich freue mich immer riesig über Kommentare und beantworte sehr gerne deine Fragen.
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