Hyos - Zwischen Lust, Scham und Schuld
Hier ein weiterer Fall aus der Kategorie: unheimlich schlechte Anamnese gemacht, und trotzdem funktioniert…
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Hyos in der Neurologie
Eine Patientin aus einer neurologischen Einrichtung war auf dem Weg der Besserung.
Sie hatte ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten, das CT-Bild des Schädels zeigte u.a. so große Läsionen im Hirngewebe, dass man das Bild niemals einem lebenden Menschen zugeordnet hätte, an die 50% der Hirnmasse zeigten „schwarze Löcher“.
Dennoch hatte sie es bis in den Rollstuhl geschafft, konnte sich frei bewegen, fand Freude an haushalterischen Tätigkeiten, lachte viel und laut, und konnte trotz der ausgeprägten Halbseiten-Lähmung vieles tun um ihren Alltag möglichst selbstständig zu bewältigen.
Vom Temperatment her unglaublich wechselhaft konnte sie die Wohngruppe durch ihre Fröhlichkeit und ihre Wutausbrüche immer wieder in Schwung bringen, belebte sozusagen das ganze Zusammenleben.
Wie so viele Menschen nach Schädel-Hirn-Verletzungen litt sie unter einer ausgeprägten Aphasie, sprach mehr oder weniger nur zusammenhangslose Silben in endlosen Wiederholungen, und oft war unklar, wieviel sie von dem verstand, was man ihr sagen wollte.
Kurz gesagt, sie hatte schon mehr als jemals erwartet erreicht und befand sich auf einem guten Weg ins Leben zurück.
Dann traten gehäuft Absencen auf, sie fiel immerwieder in eine reaktionslose Starre, die uns alle sehr erschreckte und enttäuschte, denn wir hatten wohl unsere Hoffnungen zu hoch geschraubt.
Es gab kleinere epileptische Anfälle mit endlosen Ruhephasen danach, in denen sie das Bett nicht mehr verlassen und sich am Tagesgeschehen nicht mehr beteiligen wollte und konnte.
Auch litt sie unter wiederkehrenden Schmerzen an unterschiedlichsten Stellen ihres Körpers, die sie zunehmend hysterisch werden liessen, genaue Lokalisationen waren schwer zu erfragen, auch wechselten sie ständig den Ort. Manchmal fing sie zu schreien an, wenn man sie nur berührte, dann kurze Zeit später führte sie ein Rollstuhltänzchen in der Küche vor, es war alles extrem schwer einzuschätzen, kein Symptom passte zum anderen.
Die gute Frau wurde von Untersuchung zu Untersuchung, von Facharzt zu Facharzt geschleift, niemand fand eine relevante Ursache. Es fiel nur auf, dass ihr diese Aufmerksamkeit gut tat, dadurch rutschte sie irgendwann in die Schublade „sekundärer Krankheitsgewinn“
Über die Wochen wurden v.a. durch die Absencen die Antiepileptische Medikation immer höher dosiert, allerdings ohne Erfolg, sie wurde – vermutlich auch durch dieverse Nebenwirkungen – nur noch aphatischer und lustloser.
Alle erreichten Erfolge schienen dahin, wir sahen sie schon als Pflegefall in einem Heim enden.
Homöopathie in der Neurologie
Meine Versuche mit Ignatia, Opium und anderen Mitteln waren im besten Fall ganz nett, brachten aber außer Frustation keine nennenswerten Verbesserungen.
Zu meiner Verteidigung muß ich anfügen, dass ich durch die Sprachlosigkeit dieser Frau kaum Möglichkeiten hatte, eine anständige Anamnese durchzuführen, auch gaben die Krankenakten wenig her. Angehörige kamen kaum zu Besuch.
Ein kleines Wunder
Der Durchbruch gelang mit Hilfe meines hochverehrten Lehrers Alfons Pollak, dem ich die Geschichte erzählte, und der meine Aufmerksamkeit auf ein Foto lenkte, dass sie ständig bei sich trug. Das Foto einer jungen Frau, bei der es sich gerüchtehalber um ihre zur Adoption freigegebene Tochter handelte.
Als ich sie einmal drauf ansprach wandelten sich ihre Augen von Liebe zu Trauer, zu Schuldbeladen und schließlich in totale Leere.
Ich weiß bis heute nicht, was wirklich an dieser Geschichte dran ist, aber Tatsache ist, dass sie uns auf das richtige Arzneimittel brachte: Hyoscyamus – das Bilsenkraut.
Symptome wie das Gestammel, die hysterischen Anfälle, die große Liebesfähigkeit und die Anhänglichkeit, ständiges Gefummel an Kleidung, Stoffen und Inkontinenzeinlagen machten für mich im Nachhinein das Bild komplett – sie bekam diese Arznei.
Das Wunder durfte Einzug halten – die Absencen hörten schlagartig auf, nur noch vereinzelt traten kurzzeitige Erschöpfungszustände ein, die unerklärlichen Schmerzen wurden schnell seltener, und Frau XYZ fand vor allem ihre gute Laune wieder.
Sie beteiligte sich wieder mit altbekanntem Elan an den Therapien, und bereits nach 3 Wochen wurde der Rollstuhl aus dem Zimmer verbannt.
Schon früher konnte sie kurze Strecken mit dem Rollator zurücklegen, aber nun schaffte sie es, sich allein auf ihren Gehstock gestützt, durch das gesamte Gelände zu bewegen. Sie lernte kurze Floskeln wie „Guten Tag“, „alles super“ und so mancher Drei-Wort-Satz entsprang ihren chaotischen Stimmbändern.
Ihre Stimmungsschwankungen nahmen deutlich ab, und sie entwickelte sich zum Star der „Einhandstrategien-Gruppe“.
Gelegentlich eskalierende Wutausbrüche konnten mit Hyos schnell kupiert werden, und ihrer Entlassung ins richtige Leben stand bald nichts mehr im Wege.
Zum Verständnis von Hyoscyamus
Tja – wo ist jetzt da der Zusammenhang mit dem Arzneimittelbild von Hyoscyamus?
Der Schlüssel war die Geschichte mit den Gerüchten über die Adoption, sie war nur eine Hilfestellung für uns, entspricht vielleicht nicht mal den Tatsachen, aber die Energie dahinter war real: Eine gefühlte Schuld, die man durch Ausschalten der Lebendigkeit umgeht.
Hyos war unter anderdem im Mittelalter bekannt als eines der Hexenkräuter, mit denen die Inquisitoren die jungen Frauen unter Drogen setzten, Wahnvorstellungen erzeugten, um dann auf ihre absurden Geständnisse zu kommen.
Der kranke Weg von Hyos. führt über die Raserei in´s Delirium, hervorstechend ist dabei meist eine sehr sexuelle Komponente, die uns bei dem beschriebenen Fall total fehlte.
Gemütssymptome von Hyos.
Hyos. hat häufig ein sehr naives Weltbild, und ist dabei voller Neugierde und Lust, sie versucht über das „sich verschenken“ beliebt zu sein, überschreitet dabei moralische Grenzen, wird ausgenutzt und entwertet sich Stück für Stück immer mehr, bis nur noch eine lächerliche Hülle übrig bleibt.
Erst später bemerkt sie, wie sehr das „verschenken“ ihrer Seele schadet, und wenn man ein Kind weggeschenkt hat, hatte man sicherlich notwendige Gründe dafür, aber übrig bleibt die ewige Schuld.
Auch für die Adoptivkinder selbst ist dieses Mittel häufig angezeigt, wenn für sie das „Weggegeben werden“ den Touch von „verraten und verkauft“ hat.
Jedes dieser Kinder wird mehr oder weniger Schmerzen darüber empfinden, aber ausschlaggebend für die Therapie ist immer, wie der Fakt des Weggebens bei ihnen angekommen ist, was genau daran am Schlimmsten war.
Heilungsansätze für Hyos
Ein guter Weg für Hyos. ist es, wenn es lernt sich nicht mehr zu verschenken, sondern sich teuer zu verkaufen. (Zitat Alfons Pollak)
Sich selbst seine Schuld zu vergeben, Frieden zu schließen mit den beschämenden Dingen der Vergangenheit kann Hyos. zur Heilung bringen.
Vielen Dank, dass du bis hierher gelesen hast!
Ich freue mich immer riesig über Kommentare und beantworte sehr gerne deine Fragen.
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Vielen Dank für diesen Bericht über die Medikation mittels Homöopathie. Beeindruckend, dass bei der Patientin mit Schädel Hirn Trauma das Heilkraut Hyoscyamus so sehr geholfen hat. Ich habe einige gesundheitliche Probleme schon mit Homöopathie behandelt und lese immer gern solche Erfahrungsberichte.
Liebe Kollegin; es ist schön zu sehen, wie Sie die Einträge in Rubriken als Grundlage nehmen, um die Seele zu verstehen. Das merkt auch der Patient, der eben n i c h t bewertet wird. Ich merke mir jetzt: Sich zu billig verkaufen> [Hyos]. Herzlicher Gruß, Gerhard Miller
Liebe Kollegin, ich finde deine Beschreibungen großtartig und sie helfen, nochmal eine Facette der jeweiligen Mittel zu entdecken. Außerdem finde ich deine Art zu schreiben sehr erfrischend und kurzweilig 🙂 Weiter so! LG, Corinna